Neue Lösungen für eine neue Zeit
Edoardo Podestà, Jahrgang 1962, ist seit Oktober 2019 Chief Operations Officer (COO) des Geschäftsfelds Air & Sea Logistics. In Personalunion leitet er die Business Unit ASL Asia Pacific, an deren Spitze er seit acht Jahren steht. Ein Gespräch über weltweite Logistik in stürmischen Zeiten.
Herr Podestà, wir sind gerade per Videokonferenz mit Ihnen in Hongkong verbunden, wo Sie leben und arbeiten. Sind Sie mittlerweile wieder öfter auf Geschäftsreise?
Lange waren durch die Pandemie Geschäftsreisen tatsächlich völlig aus dem Arbeitsalltag verschwunden, und sie sind immer noch eine Herausforderung. Zum Beispiel als ich im Frühjahr aus Europa kommend erstmal in Quarantäne musste. Eine Woche durfte ich das Hotelzimmer in Hongkong nicht verlassen und musste mich jeden Tag testen. Erst als alle Tests negativ zu Buche standen, konnte ich mich wieder frei bewegen. Die Pandemie ist eben noch nicht vorbei, und die Sicherheitsmaßnahmen in Hongkong und China sind hoch und werden streng gehandhabt. Wir leben schon in besonderen Zeiten.
Der Ausbruch der Pandemie vor zweieinhalb Jahren hat die Vorzeichen in beispielloser Weise verschoben. Die Welt ist heute eine andere. In der Logistik ist dies deutlich zu spüren: Lockdowns in China, stockende Lieferketten und knappe Kapazitäten sowie Mitarbeitende unter großer Arbeitsbelastung – und nun auch noch der Ukraine-Krieg, mit großen Auswirkungen auf den Welthandel. Es kommt tatsächlich sehr viel zusammen. Allerdings sagt man ja auch, dass in jeder Krise eine Chance steckt. Sich in solchen Situationen zu behaupten, macht ein gut aufgestelltes Unternehmen aus.
Was bedeuten all diese Entwicklungen für die Logistik?
In der Unternehmenswelt war die Logistik im Allgemeinen den Produkten und der Produktion eher nachgeordnet. Gewiss, die Kosten für den Transport musste man schon im Blick haben, sie sollten vor allem möglichst niedrig sein. In der Krise ist aber nun allen klar, dass Lieferketten und Logistik nicht nur Beiwerk und ein Kostenfaktor sind, sondern eine hohe Relevanz und Systembedeutung haben. Erst recht, wenn in arbeitsteiligen Gesellschaften viele Produktionsschritte und Komponenten in einem ausbalancierten und minutiös geplanten Prozess zusammengeführt werden müssen. Und das oft über Grenzen und Kontinente hinweg. Die Logistik ist also ein wesentlicher Teil des Geschäftsmodells und hat uns als kompetenten Lösungsanbieter ins Rampenlicht gerückt.
Auch vor der Pandemie waren die Kapazitäten in Luft- und Seefracht schon am Limit. Mit der Krise hat sich dies deutlich verschärft. Häfen waren teilweise komplett lahmgelegt oder liefen corona-bedingt nur mit gedrosselter Kraft. Viele Flugzeuge blieben am Boden, die sogenannte Belly-Freight als Zuladung in Passagiermaschinen war über lange Zeit ausgefallen. In Europa und Asien fuhren Werke ihre Produktion zurück, es kam zu Lockdowns in den chinesischen Wirtschaftszentren und insbesondere in Shanghai, von denen mehr als drei Millionen Menschen betroffen waren. Damit stieg der Druck auf entsprechend hochwertige logistische Lösungen mit Qualität. Jeder kann einen Container buchen. Aber auch unter diesen außergewöhnlichen Bedingungen verlässliche Dienstleistungen anbieten zu können, macht den Unterschied. Unsere Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter haben unter diesem Stress Außergewöhnliches geleistet. Das nehmen auch unsere Kunden wahr, die nun mehr Wert auf Service und Qualität legen.
Welche Folgen zieht der Krieg in der Ukraine für die weltweiten Lieferketten nach sich? Und wie zeigen sich diese ungewöhnlichen Zeiten in den Geschäftszahlen?
Die Tradelanes zwischen Nordasien und Europa sind vom Krieg und den Sanktionen empfindlich getroffen. Für die Luftfracht bedeutet die Sperrung des Luftraums über den kriegführenden Ländern etwa zweieinhalb Stunden längere Flüge. Das heißt, es wird mehr teuer gewordener Treibstoff verbraucht, dessen Gewicht zulasten möglicher Cargo-Zuladung geht. Das wirkt sich entsprechend auf den Aufwand und das Pricing in der Luftfracht aus. Zum Erliegen gekommen ist der Bahnverkehr zwischen Asien und Europa, da ein Großteil der Strecke durch Russland führt. Dabei hatte dieses Angebot zuletzt gerade bei europäischen Kunden als Alternative zur Seefracht Gefallen gefunden. All dies, in Verbindung mit den Lockdowns in China, rückt ausgereifte Logistiknetzwerke, wie sie Dachser betreibt, in den Fokus eines resilienten, leistungsfähigen Supply Chain Managements.
2021 stieg unser Umsatz im Luft- und Seefrachtgeschäft um 78,3 Prozent von 1,2 Milliarden Euro auf nunmehr über 2,1 Milliarden Euro. Alle drei Dachser-Regionen waren an diesem außergewöhnlichen Wachstum beteiligt: ASL Americas legte beim Umsatz um 60 Prozent zu, die Region APAC um 74 Prozent und EMEA um 80 Prozent. Das knappe Angebot und hohe Nachfrage in der Luft- und Seefracht haben zu einem besonders starken Preisanstieg in diesem Segment geführt. Zudem verzeichneten wir einen signifikanten Anstieg bei den Sendungszahlen. Wir wachsen jedoch nicht nur bei den Zahlen, sondern auch qualitativ.
Dafür gibt es viele Beispiele. Über allem steht, dass unsere Kunden von der engen Verzahnung von Luft- und Seefracht mit dem Landverkehr profitieren können. Als in der Pandemie auf einen Schlag ein Großteil des verfügbaren Frachtraums ausfiel, haben wir eigene Charterverbindungen aufgebaut und diese eng an das europäische Road Logistics-Netzwerk angebunden, zum Beispiel um Masken und medizinische Schutzausrüstung schnellstmöglich in ganz Europa zu verteilen. Im Jahr 2021 haben wir insgesamt 230 Charterflüge durchgeführt und ein eigenes Transportnetz zwischen Asien, Europa und Nordamerika geschaffen. Die Nachfrage nach unseren Charterverbindungen ist weiterhin hoch. Dennoch sind wir uns bewusst, dass es sich um ein Ausnahmejahr gehandelt hat. Wir müssen sehen, wie die Entwicklung angesichts der aktuell weiterhin unberechenbaren wirtschaftlichen Lage weiter fortschreitet. Langfristig planen wir, unsere Charterverbindungen auf ausgewählten Strecken als Rückgrat künftiger Serviceleistungen zwischen Asien und Europa sowie zwischen Asien und den Americas konsequent weiter auszubauen.
Edoardo Podestà ist COO Air & Sea Logistics bei DACHSER
Ist ein solches Charter-Modell für Dachser auch in der Seefracht eine Option?
Ein Schiff zu chartern ist etwas anderes als ein Flugzeug-Charter. Allein schon wegen der Größenordnungen. Ein mittleres Containerschiff lädt um die 5.000 Zwanzig-Fuß-Standardcontainer, diesen Platz müsste man erst einmal verkaufen. Wir arbeiten zudem viel mit Container-Teilladungen (Less-than-container load – LCL), die wir dann vielfach End-to-End über unser europäisches Roadnetzwerk an ihre Bestimmungsorte bringen.
Welchem strategischen Ansatz folgt Dachser ASL dabei?
Es geht uns bei allem was wir tun – gerade und erst recht in der Krise – immer um Lösungen für unsere Kunden. Dazu gehört, dass wir in der Lage sind, Ware aus Übersee in unser Landverkehrsnetzwerk einzuspeisen und in ganz Europa verteilen zu können. Dass unsere Zahnräder Luft, See und Straße so reibungslos ineinandergreifen, ist ein wichtiger Baustein, um gemäß unserer Mission die Logistikbilanz unserer Kunden zu optimieren.
Wenn Sie auf die Zeit seit Ihrer Berufung ins Dachser Executive Board zurückschauen, wie fällt da ihre ganz persönliche Bilanz aus?
Das ist für mich eine hochinteressante Zeit. Es gefällt mir, Herausforderungen mit Kreativität und robusten Lösungen zu begegnen. Gerade in anspruchsvollen Zeiten wie diesen hätte ich mir aber gewünscht, mehr unterwegs sein zu können, um Mitarbeitende im ganzen Netzwerk, Kunden und auch meine Vorstandskollegen persönlich zu treffen. Das war ja leider nicht oder nur sehr, sehr eingeschränkt möglich. So blieb dann oft nur die Videokonferenz. Da hoffe ich sehr auf möglichst baldige Rückkehr zu mehr Normalität.
Vielen Dank für das Interview.