Zurück im Spiel
Mit dem Ausscheiden Großbritanniens aus dem Europäischen Binnenmarkt wurden vor vier Jahren auf der Insel die Karten im Handel mit der Europäischen Union neu gemischt. Eine beispiellose Herausforderung, für die DACHSER eine eigene Lösung entwickelt hat: Smart Border Connect.
„Gamechanger“ ist ein großes Wort. Zuletzt allerdings oft überstrapaziert, wenn damit auch jede noch so kleine Veränderung oder Verbesserung eines Produktes ins Scheinwerferlicht gestellt wird. Wenn sich aber jemand mit echten Gamechangern auskennt, dann sind dies Mark Rollinson und Mark Cosgrove. Wir treffen den Regional Managing Director von DACHSER UK und Irland, und den Sales and Commercial Manager für Großbritannien und Irland, im DACHSER Logistikzentrum Northampton. Die Stimmung ist hervorragend. „Wir haben etwas Großes erreicht“, sagt Mark Cosgrove. „Einen Gamechanger für uns und unsere Kunden.“ Tatsächlich?
Die Rede ist von Smart Border Connect, ein von DACHSER entwickelter neuer Logistik-Service. In zwei verschiedenen Serviceoptionen – Connect40 und Connect42 – beseitigt er viele Barrieren an der Landesgrenze und ermöglicht so britischen Exporteuren einen reibungslosen Zugang zum EU-Markt. „Für britische Exporteure, die auf Basis des DDP-Incoterms (Delivered Duty Paid) verzollt liefern, kehren wir mit einer maßgeschneiderten Zolllösung zu den historischen Treibern des Logistikeinkaufs zurück: Schnelligkeit bei den Transitzeiten und Servicequalität. Und das in Verbindung mit wettbewerbsfähigen Preisen“, stellt Mark Cosgrove fest.
Eine reibungslose europaweite Stückgutlogistik klingt aus der Perspektive eines EU-Mitgliedstaats selbstverständlich. 2023 wurden allein im DACHSER-Netzwerk über 64 Millionen innereuropäische Sendungen befördert – ohne Binnenmarktgrenzen und damit ohne Verzollung und den damit verbundenen kostspieligen administrativen und regulatorischen Aufwand.
Doch diese Selbstverständlichkeit ist bekanntlich seit dem 23. Juni 2016 Makulatur geworden. An diesem Tag sprachen sich 52 Prozent der Briten in einem Referendum für den EU-Austritt Großbritanniens aus. Ein Erdbeben, das Premierminister David Cameron zum Rücktritt veranlasste und viele Akteure auf der politischen Bühne zunächst ratlos zurückließ. Am 29. März 2017 reichte London in Brüssel den Austrittsantrag ein. Damit begann die zweijährige Frist bis Ende März 2019, in der beide Seiten die Brexit-Bedingungen aushandeln wollten. Es folgte ein beispielloses Hin und Her zwischen Großbritannien und der EU zu den Austrittsbedingungen, den Fristen und den Modalitäten des Brexit-Vollzugs. „Alles war auf einmal vollkommen offen, schnelle Lösungen nicht in Sicht. Fest stand nur: Die Grundlagen des freien Handels würden sich fundamental verändern. Nur wusste keiner genau, was dies für die Im- und Exporte in Großbritannien bedeutet“, erinnert sich Mark Cosgrove. „Und die Uhr tickte. Das war Stress pur. Handelspartner, Spediteure, aber auch die Zollverantwortlichen brauchten Lösungen, für die es keine Blaupause gab.“
Viele schlaflose Nächte
Wer von den international aufgestellten Unternehmen konnte, begann schon, seinen Betrieb in die EU zu verlegen. „Für viele kleine und mittelständische Unternehmen war dies jedoch keine Option, sie mussten eigene Lösungen finden, mit den neuen, komplexen und anfangs völlig unübersichtlichen Folgen des Brexit umzugehen“, berichtet Mark Rollinson. „Da hatten viele schlaflose Nächte. Auch ich. Wir wollten auf keinen Fall durch Zollhürden den Anschluss an das europäische DACHSER-Netzwerk verlieren.“
Am 20. Dezember 2019 gab es dann Gewissheit: Das Unterhaus nahm den Gesetzesvorschlag zum EU-Austritt mit 353:243 Stimmen an. Nur knapp vier Wochen später, am 31. Januar 2020 trat Großbritannien um 23.00 Uhr Ortszeit (00.00 Uhr MEZ) aus der EU aus, verblieb aber bis Ende des Jahres in einer Übergangsphase im Binnenmarkt. „Immerhin war das noch etwas Zeitgewinn für die Logistikbranche, sich auf die neue Situation einzustellen und entsprechende Voraussetzungen für den neu aufgestellten Warenverkehr zwischen Großbritannien und der EU zu schaffen. Doch dann kam auch schon Corona – und das Desaster war perfekt“, sagt Mark Rollinson. „So ein Szenario hätte ich mir nicht vorstellen können. Höchstens als Fiktion in einem Katastrophenfilm. Doch diese Katastrophe war real. Und wir mussten das Beste daraus machen.“
Wenn Mark Rollinson und Mark Cosgrove auf diese Zeit zurückblicken, kommt sie ihnen noch heute abenteuerlich vor. „Alle Regeln, alle Prozesse und Abläufe waren auf dem Prüfstand. Das hat vielen Unternehmen und mittelständischen Spediteuren in Großbritannien den Stecker gezogen. Wir aber hatten mit DACHSER, mit den Gesellschaftern und dem Head-Office einen starken fachlichen, finanziellen und vor allem auch einen emotionalen Rückhalt“, sagt Mark Rollinson.
„Mit Smart Border Connect haben wir eine passgenaue DACHSER-Lösung entwickelt, mit der Exporteure in UK die Auswirkungen des Brexit auf ihre EU-Kunden minimieren können“, sagt Alexander Tonn, COO Road Logistics. „Dank Vorverzollung können sie jetzt alle ihre Zielmärkte in Europa wieder mit vergleichbaren Laufzeiten wie vor dem Brexit bedienen.“
Auf dem Weg in die Post-Brexit-Zeit musste DACHSER UK zunächst Expertise für die neuen Im- und Exportbedingungen aufbauen. „Dafür brauchten wir Zollfachleute, die es aber auf dem Markt so gut wie gar nicht gab. Also haben wir sie 2021 gemeinsam mit dem DACHSER Head Office selbst ausgebildet“, berichtet Mark Rollinson. Neben dem Kompetenzaufbau rund um die neuen Zollauflagen mussten zusätzlich Fachkräfte in Sachen Compliance, Operations, Finance, Cash-flow und vieles mehr geschult werden. Es gelang. Innerhalb kürzester Zeit konnte das Team von 16 auf 150 Zollexperten erweitert werden. „Aber für diese Spezialisten mussten wir erst einmal Arbeitsplätze, entsprechende Räumlichkeiten und technische Ausstattung bereitstellen. Erneut ein beispielloser Kraftakt, der sich aber auszahlte“, so Rollinson.
Und da schließt sich der Kreis zu Smart Border Connect. Mit dem Brexit hatte DACHSER bereits ein spezielles Dokumentenportal für Zolldokumente eingeführt und das eigene Customs Hub beim Ausbau nationaler Shared-Service-Center-Strukturen unterstützt. Auf dieser Grundlage und mit vielen Ideen aus dem DACHSER UK Thinktank konnte dann im Februar 2024 nach einem Jahr Entwicklungszeit die Smart Border Connect-Lösung eingeführt werden. Damit transportiert DACHSER Waren für Kunden im Vereinigten Königreich überwiegend über das französische Smart Border System nach Europa – schnell, zuverlässig und reibungslos inklusive der Erledigung aller Zoll- und Steuerangelegenheiten. Die Laufzeiten im Rahmen des normalen Sammelgutverkehrs sind dabei bereits mit denen vor dem Brexit vergleichbar. Die Exporteure in UK, die sich dieses Systems bedienen, können aufatmen.
Mit Vorverzollung gegen Laufzeitverluste
Die Grundlage dafür schafft die Verwendung des DDP-Incoterms. Weil dabei der Versender für die Verzollung und Mehrwertsteuer zuständig ist, muss der Kunde beim Empfang der Sendung nichts mehr bezahlen. Die Ware kann wie eine nationale Lieferung im freien Warenverkehr zugestellt und reibungslos ins Europa-Netzwerk von DACHSER mit Anschluss an alle EU-Nationen integriert werden – ohne Laufzeitverluste und erhöhten administrativen Aufwand.
„Seit der Einführung von Smart Border Connect haben wir eine enorme Nachfrage sowohl von bestehenden als auch von neuen Kunden verzeichnet. Viele haben sich entschlossen, von sich aus ihre Lieferungen auf DDP-Incoterms umzustellen, um bei DACHSER von den schnellsten Transitzeiten auf dem Markt zu profitieren“, berichtet Mark Cosgrove. „Wir haben damit einen Nerv getroffen.“
„Smart Border Connect“, fügt Mark Rollinson hinzu, „ist nicht nur für UK, sondern auch für Drittländer interessant – etwa bei der Einbindung von weiteren Nicht-EU-Ländern wie der Schweiz und Norwegen. Richtig spannend wird es, wenn DACHSER die Geschäftsfelder European Logistics und Air & Sea Logistics noch enger verzahnt, mit dem Ziel einer globalen Door-to-Door-Stückgutlösung. Mit Smart Border Connect in der Toolbox und diesem Know-how werden alte und neue Wachstumsmärkte rund um den Globus dann noch effizienter und noch enger zusammenrücken können“, prognostiziert Rollinson. „Sehr spannend. Das wird dann ein weiterer Gamechanger“, ist sich Mark Cosgrove sicher. Ein zu großes Wort? Immerhin wissen sie in Großbritannien nur zu genau, was es wirklich bedeutet.